Haunted Reign

1


Mit ausgebreiteten Armen stand ich am Seeufer, als der Wind mir ins Gesicht peitschte, und genoss die eisige Kälte. Die Sterne leuchteten über uns. Ich sah nach oben und betrachtete die strahlenden Lichter, die sich nach einigen Sekunden zu drehen begannen.
»Noch eins?«, erklang eine Stimme neben mir, und ich wandte mich dem Mädchen zu. Sie kam mir bekannt vor. Wahrscheinlich war sie in irgendeinem meiner alten Kurse gewesen. Oder einem meiner neuen? Ich war mir nicht ganz sicher. In den letzten Wochen war mein Leben irgendwie an mir vorbeigerast. Es gab morgendliche Nachhilfe, es gab Unterricht, und dann gab es die Nacht. Die vielen Augenblicke, in denen ich es nicht aushielt, so lange an die Decke starrte und von dunklen Erinnerungen heimgesucht wurde, dass ich keinen anderen Ausweg sah, als mich abzulenken. So auch in dieser Nacht.

Ich lächelte das Mädchen an, deren Name mir entfallen war, und hielt ihr den Becher hin, den ich eben geleert hatte.
»Gern«, sagte ich, und sie kam der Aufforderung sofort nach und goss mir noch mehr Sekt ein. Ich stieß mit ihr an, dann noch mit zwei weiteren Mitschülerinnen, und gemeinsam tranken wir. Wahrscheinlich würden sie mich morgen nicht mit dem Hintern angucken, und ich würde sie nicht erkennen, aber so war das an der Everfall Academy. Man feierte mit Menschen und tat am nächsten Tag so, als hätte man sie noch nie gesehen. Früher hätte mich das
vielleicht gekränkt. Jetzt war es mir merkwürdig egal.
Ich leerte das Glas nach und nach, legte den Kopf in den Nacken, als mir mit einem Mal Bilder vor Augen traten.
Ein schwarzhaariges Mädchen, das mir Kekse hinhielt und mit Gläsern voll Orangensaft mit mir anstieß. Das mich umarmte und für mich da war. Dessen Gesicht sich in meinen Gedanken plötzlich verzerrte, bis es auflachte und gefährlich triumphierend sagte: Oh Mann, du müsstest dein Gesicht sehen. Einfach herrlich.
Das Glas war leer, und ich sah es böse an, als könnte es etwas dafür, dass ich von den Erinnerungen heimgesucht wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie viel von dem Sekt ich bereits intus hatte, aber wenn die Erinnerungen noch so laut waren, war es nicht genug. Oder ich musste zu drastischeren Mitteln greifen, um meinem Hirn Einhalt zu gebieten.

Ich begab mich zu einigen der anderen Schüler, wobei ein paar bekannte Gesichter im Licht des kleinen Lagerfeuers aufflackerten. Ich sah Beau, meinen Ex, seinen besten Freund Ronan und Orla, die ich einst für eine Freundin gehalten hatte. Zumindest, bis ich belauscht hatte, wie sie sich an Beau hatte ranmachen wollen, während wir noch
zusammen gewesen waren. Klar, die Beziehung zu ihm war längst zerrüttet gewesen, aber dennoch machte sie das nicht unbedingt zu einer meiner Lieblingspersonen. Genauso wie Beau seit seinen harten Worten vor wenigen
Wochen in meinem Ansehen gesunken war, als er mich und meine Magie als ungefähr das Schlimmste betitelt hatte, was ihm je passieren könnte. Es kam mir immer noch komisch vor, jemanden, mit dem man einen so großen Abschnitt des Lebens geteilt hatte, plötzlich zu ignorieren. Aber inzwischen war ich richtig gut darin geworden. Bloß in schwachen Momenten – meistens nachts – wogte
der Schmerz durch mich hindurch, und ich suchte verzweifelt nach etwas, das mich ablenkte. Rasch wandte ich den Blick ab und mischte mich unter die Tanzenden. Ich lauschte der Musik und gab mich in der Menge den Klängen der Gitarren und Drums hin. Die Musik war zwar leiser, als mir lieb gewesen wäre, aber ich bewegte mich dennoch im Takt. Ich wiegte die Hüften, warf mein Haar von einer auf die andere Seite, bis mir ganz schwindelig wurde. Ich ließ zu, dass jemand meine Hüften umfasste. Doch als ich die Hände in meine nahm und sich Arme um meine Taille schlangen, spürte ich nicht viel. Da war kein Bauchkribbeln. Da war nichts.

Ich runzelte die Stirn und tanzte weiter. Mein Kopf verstummte immer noch nicht. Andauernd kehrten die Erinnerungen zurück. Die an das Leben, das ich einst geführt hatte. Die daran, was für eine Art Mensch ich vorher gewesen war, bevor ich vor meinen Augen einen Jungen hatte sterben sehen. Erinnerungen an meine zerbrochene Beziehung, an den Spott meiner Mitschüler, an die gefährlich dunkle Magie, die nun ein Teil von mir war und
mir dabei geholfen hatte, einen Mord aufzuklären. Wenn ich noch so viel denken konnte, war das überhaupt nicht gut.
»Lust auf ein Bad?«, rief jemand und ich riss den Kopf herum. Es war Rafael Garcia, ein angehender Schmied aus dem Haus der Kunst und des Handwerks, der Bronze Wolves. Er zog sich in einer fließenden Bewegung den Pullover aus, der kurz darauf auf dem eisigen Boden landete. Weitere Partygäste schlossen sich ihm an und begannen sich ihrer Kleidung zu entledigen.
»Seid ihr wahnsinnig?«, fragte Orla und starrte sie an.
Ja, wahrscheinlich waren sie das.
Gut, dass ich es auch war.
Ich schälte mich aus dem Pullover und dem Thermoshirt, das ich darunter trug, meine Hose und die Boots folgten.
»Ihr seid komplett bescheuert«, rief Hannah. »Es ist Ende November. Wenn ihr das ernsthaft vorhabt, werden sie euch später erfroren aus dem See ziehen.«
»Falls die Merrows euch nicht hinunterziehen. Oder was auch immer dort drin noch herumgeistert«, warf ein anderes Mädchen ein.

Ich hörte bloß mit halbem Ohr hin, ich war bereits auf dem Weg zum Seeufer. Die oberste Schicht war tatsächlich schon ein wenig überfroren. Eine leichte Eisschicht glitzerte im Mondschein. Rafael warf schreiend den Kopf zurück, denn er war der Erste, der das klirrend kalte Wasser erreicht hatte. Eine Reihe von Schülern war ebenfalls dabei, in den eisigen See zu waten, und als meine Füße auf das Wasser trafen … das war der erste Moment an diesem Abend, wo etwas den betäubten Zustand durchdrang, in dem ich mich seit Wochen befand. Etwas, das nichts mit dunklen Erinnerungen zu tun hatte. Etwas, das meinen Puls schneller schlagen ließ. Zumindest, bis jemand mein Handgelenk umfasste und mich festhielt.
Ich fuhr herum. Einen Tick zu hastig, denn ich verlor das Gleichgewicht und geriet ins Straucheln. Eine zweite Hand legte sich um meinen Oberarm und hielt mich aufrecht. Diesmal kribbelte meine Haut. Mein Körper schien zu begreifen, wer mich berührte, noch bevor ich aufblickte und ihm ins Gesicht sah.
»Willst du mir verraten, was zum Teufel du da machst?« Seine tiefe Stimme wogte über mich hinweg.
Dylan war hier. Und zu meinem Bedauern reagierte mein törichtes Herz sofort auf seine Anwesenheit. Es surrte in meiner Brust, was es beim Anblick des einzigen Reapers an der Akademie definitiv nicht tun sollte.

Schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine Miene war finster, als hätte er eindeutig keine Lust, hier zu sein. Mein Blick blieb eine Sekunde zu lang an seinen breiten Schultern hängen, bevor ich ihm wieder ins Gesicht sah. Ich realisierte, dass die Leute um uns herum große Bögen schlugen, was ich ihnen nicht verdenken konnte. Dylan genoss den Ruf, gefährlich zu sein. Seine Gabe bestand darin, verstorbene Seelen durch den Schleier ins Jenseits zu begleiten und dafür zu sorgen, dass sie dies wirklich taten und nicht etwa für die Ewigkeit ein trostloses Dasein als Geister fristeten. Vor Hunderten von Jahren jedoch hatten unsere Vorfahren, die Tuatha De Danann, denen wir unsere Magie verdankten, einen Sonderbeschluss getroffen, der besagte, dass Reaper im Falle eines Krieges ihre tödliche Fähigkeit nutzen durften, verfeindeten Völkern, wie beispielsweise den Fomoriern, Seelen zu entreißen. Heutzutage war dies illegal – niemand durfte die Magie, die uns von unseren Vorfahren geschenkt wurde, gegen andere Nachfahren oder gar Normalsterbliche einsetzen. Dennoch tat das dem Respekt, den alle vor Dylan hatten, keinen Abbruch. Was nur verständlich war, denn jeder, der seine Magie mit eigenen Augen gesehen hatte, wusste, zu was er fähig sein konnte. Dass er nebenbei mit Drogen und Alkohol handelte und für Geld so ungefähr alles machen würde, ganz gleich, gegen wie viele Akademieregeln er damit auch verstieß, verstärkte diesen Effekt bloß.
»Ich feiere das Leben«, gab ich verspätet zurück. Meine Stimme klang gedehnt, ich hörte selbst, wie sehr der Alkohol meine Zunge verlangsamte.
Zwischen Dylans Brauen bildete sich eine kleine Falte. »Für mich sieht es eher aus, als würdest du dich absichtlich in Gefahr begeben.«

Ich entzog ihm meine Arme. »Ich bin nicht die Einzige, die baden geht«, sagte ich und deutete auf die anderen.
Dylans Blick schweifte zu den anderen, bevor er wieder auf mir landete. »Die anderen interessieren mich herzlich wenig. Ich bin deinetwegen hergekommen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich nicht darum gebeten.«
Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Komm.«
»Wohin?« Ein langsames, bittersüßes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Ich tat einen Schritt auf ihn zu, Wasser spritzte auf seine Schuhe, als ich ihm eine Hand auf die Brust legte. »Etwa zu dir?«
Sein Blick glitt über mein Gesicht, dann wanderte er weiter nach unten zu meinem BH mit Spitzenbesatz. Nur für einen Wimpernschlag, aber ich sah es und spürte Triumph in mir hochkochen. Dylans Kiefermuskeln traten hervor. »Hör auf mit den Spielchen, Miss Everfall.«
Er wusste genau, dass es mich wahnsinnig machte, wenn er mich so nannte. Zum einen wegen dem unterschwelligen Spott in seiner Stimme, zum anderen, weil ich längst kein Mitglied mehr im Misswahl-Komitee der Akademie war und mir die Erinnerung daran immer noch einen kleinen Stich versetzte. Darüber hinaus belehrte er mich, als wären wir gerade bei unserer Nachhilfe. Mich zu reizen, war eine von Dylans Spezialitäten, und er schien genau zu wissen, welche Knöpfe er dafür drücken musste. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er es mit Absicht tat. Ob er mich auf diese Weise dazu bringen wollte, etwas anderes als Betäubung zu fühlen. Aber dann verwarf ich den Gedanken gleich wieder.

Zu viel in sein Verhalten hineinzuinterpretieren, war keine gute Idee. Es hatte Momente gegeben, in denen ich das getan hatte. Einer davon war vor fast zwei Monaten gewesen, in jener Nacht, in der er bei einem Kampf verletzt worden war und ich mich um ihn gekümmert hatte. Für einen Augenblick hatten wir die Grenze zwischen uns überschritten. Ich hatte ihn geküsst und mir zum ersten Mal etwas genommen, was ich wollte – ohne es zu zerdenken, ungeachtet der Konsequenzen. Doch dieser Moment lag inzwischen viele Wochen zurück, und seitdem war es zu keiner Wiederholung gekommen. Was nicht an mangelndem Interesse meinerseits gelegen hatte. Aber es war an der stahlharten Wand abgeprallt, die Dylan wieder hochgezogen hatte. Stattdessen schien er sich bloß noch darauf zu konzentrieren, wofür er als mein Mentor an der Akademie eingeteilt worden war. Dabei standen morgendliche Nachhilfestunden und eine Menge Training auf dem Plan. Und dann gab es natürlich noch das hier. Die Tatsache, dass er ständig aufpasste, dass ich keine Dummheiten beging. Als hätte ihn seine Tante, Professorin Chen, nicht nur zu meinem Mentor, sondern auch zu meinem persönlichen Leibwächter erkoren. Als wäre ich nicht mehr für ihn als ein verdammter Job.
Auch dieser Gedanke schmerzte, und ich musste irgendetwas tun, damit er verschwand.
»Du kannst deiner Tante gern Bericht erstatten«, sagte ich jetzt und hasste, wie rau meine Stimme klang. »Oder machst du das direkt bei Rektorin Baskerville? Dann gib ihr doch Bescheid.«

Mit diesen Worten machte ich kehrt und wollte zu den anderen, die inzwischen zu siebt im See badeten und aufgrund der Kälte laut jauchzten und zwischendurch schrien.
»Du solltest morgen früh besser fit sein«, sagte er noch hinter mir.
»Sonst was?«, fragte ich provokant. »Wirst du mich beim Training besonders hart rannehmen?«
Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich einzig seine finstere Miene. Rückwärts ließ ich mich ins Wasser gleiten und keuchte, als die eisige Kälte über mir zusammenschlug. Ich versank in Dunkelheit, die Gliedmaßen von eisigen und gleichzeitig heißen Nadeln durchdrungen. Ich blieb so lange unter der Oberfläche, bis sich der Druck auf meiner Brust bis zum Äußersten steigerte. Plötzlich umschlangen mich zwei kräftige Arme und rissen mich zurück nach oben. Ich atmete keuchend ein – und sah mich Dylan gegenüber, der mich aus dunklen Augen anfunkelte.
»Verdammt noch mal, Zoey«, knurrte er.
Sein harter Tonfall durchdrang die Taubheit in mir mindestens so sehr wie das eisige Wasser. Ich versteifte mich, als mein Schutzschild Risse bekam und Schmerz in mein Inneres sickerte. Schmerz, den ich sorgfältig verschlossen hielt. Er durfte nicht nach außen dringen. Die Konsequenzen wären fatal.
Ohne ein weiteres Wort hob Dylan mich hoch und warf mich über seine Schulter. Ich schrie auf. »Was zum Teufel machst du da?«
»Ich bringe dich nach Hause.«
»Lass mich sofort runter.«

Er ignorierte mich und watete durch das Wasser. Beim Seeufer angekommen, konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, wie die dort stehenden Leute Dylan schleunigst aus dem Weg gingen. Wahrscheinlich hatte er seine finsterste Reaper-Miene aufgesetzt, die die Leute am Campus stets in Angst und Schrecken versetzte, was ich ihnen nicht verdenken konnte. Dylan konnte gruselig sein, wenn er wollte.
Im Vorbeigehen riss er seinen Mantel von einem tief hängenden Ast, bevor er zwischen die Bäume des angrenzenden Waldes weiterlief.
»Meine Sachen sind noch am See«, sagte ich, wobei seine Schulter bei jedem Schritt in meinen Magen drückte und mir langsam Übelkeit bescherte.
Als wir einige Meter Abstand zur Party gewonnen hatten, ließ er mich schließlich runter. Mein Körper glitt dicht an seinem hinab, Zentimeter für Zentimeter, und ich hielt den Atem an, als ich wieder Boden unter den Füßen hatte. In Dylans braunen Augen wütete immer noch ein Sturm, düster und unaufhaltsam, seine Miene war von Zorn und etwas anderem umwölkt, auf das ich meinen Finger nicht genau legen konnte.
Er hob die Hände und schlang mir seinen Mantel um die Schultern. Erst da bemerkte ich, dass ich zitterte. Und zwar so heftig, dass meine Zähne klapperten. Dylan schien sich besser im Griff zu haben. Seine Finger bewegten sich gekonnt, er schloss einen Knopf nach dem nächsten, bis der Mantel bis oben hin zu war. Anschließend machte er kehrt und holte meine restlichen Sachen. Danach half er mir in meine Schuhe, wobei er so lange schwieg, dass ich langsam meinte, die Wut zu spüren, die in Wellen von ihm ausging.

Als er sich wieder erhob, fühlte ich seinen Blick auf mir, aber ich wich ihm aus. Einige Sekunden verstrichen. Dann legte Dylan die kalten Finger unter mein Kinn und hob es an, damit ich ihm ins Gesicht sah. Meine Kehle wurde trocken, als ich unzählige Gefühle in seiner sonst so kontrollierten Miene toben sah.
»Hör auf damit«, sagte er jetzt.
»Womit?« Meine Stimme verklang kaum hörbar im Wald.
»Mich auszuschließen. Dich absichtlich in Gefahr zu bringen.« Er ließ mein Kinn los. Erst da wurde mir bewusst, dass ich mich in die Berührung gelehnt hatte.
Ich suchte nach Worten, doch alle, die mir in den Sinn kamen, würden die Wunde in meinem Inneren erneut aufreißen. Und was dann geschah, mochte ich mir kaum ausmalen. Jetzt schon tat das Atmen weh.
»Was interessiert es dich?«, fragte ich stattdessen.
»Auf eine so dämliche Frage weigere ich mich zu antworten. Und jetzt komm. Ich friere mir den Arsch ab.« Mit diesen Worten marschierte er los in Richtung des Schleichwegs, der am Rand der Campusgrenze hinauf zum Wohnheim der Silver Ravens führte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Dabei kuschelte ich mich enger in seinen Mantel und vergrub die Hände in den Taschen, eingehüllt von seinem angenehmen Duft und der darin anhaltenden Wärme.